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Mai 2010
13.05.2010 Tat und Handlung
     
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Das materielle Strafrecht unterscheidet im Bereich der sogenannten Konkurrenzen, also des Zusammentreffens mehrerer Tathandlungen oder Gesetzesverletzungen, zwischen Idealkonkurrenz (Tateinheit, § 52 StGB) und Realkonkurrenz (Tatmehrheit, § 53 StGB). Diese Unterscheidung baut auf dem Begriff der "Handlung" auf. Hingegen sind dem Strafprozessrecht die Begriffe "Tateinheit" und "Tatmehrheit" fremd; es verwendet vielmehr den eigenständigen prozessualen Begriff der "Tat", nach der sich vor allem der "Gegenstand der Urteilsfindung" ( § 264 Abs. 1 StPO) und - damit verbunden - der Umfang der Rechtskraft richten. Auf diesen Begriff greift Art. 103 Abs. 3 GG zurück. Er versteht darunter - in Übereinstimmung mit dem Strafprozessrecht - den "geschichtlichen Vorgang, auf welchen Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer einen Straftatbestand verwirklicht haben soll" ( BVerfGE 23, 191 [202]). Der Begriff der "Tat" ist mithin weiter als derjenige der "Handlung". Mehrere Tatbestandsverwirklichungen können auch dann "eine Tat" im Sinne des § 264 StPO ( Art. 103 Abs. 3 GG) bilden, wenn sie zueinander im Verhältnis der Tatmehrheit stehen. Andererseits stellt eine einheitliche Handlung stets auch eine einheitliche prozessuale Tat dar. Das ändert indessen nichts an der Selbständigkeit des prozessualen Tatbegriffs im Verhältnis zum materiellen Recht. (1) <RN 4>
 

 
Eine der schwierigsten Abgrenzungsprobleme entstammt aus Art. 103 Abs. 3 GG: Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

Das Problem ist der Begriff "Tat", den das materielle Strafrecht (StGB) und das Verfahrensrecht (StPO) unterschiedlich verstehen.

§ 264 Abs. 1 StPO folgt dem verfassungsrechtlichen Tatbegriff, der einen geschlossenen geschichtlichen Vorgang meint, der mehrere Handlungen umfassen kann, die für sich eine Strafbarkeit begründen können. Darauf hat das BVerfG bereits 1977 hingewiesen (1).

Das materielle Strafrecht betrachtet die Tat hingegen als Handlung und unterscheidet deshalb zwischen Tateinheit ( § 52 StGB) und Tatmehrheit ( § 53 StGB).

Der Unterschied zwischen beiden Tatbegriffen ist dann kein Problem, wenn es um die Beurteilung von Handlungen mit einem engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang geht. Ein gutes Beispiel dafür ist der betrunkene Autofahrer, der deshalb einen Unfall baut (Straßenverkehrsgefährdung, § 315c StGB), gleich darauf flüchtet und einen weiteren Unfall verursacht (Straßenverkehrsgefährdung in Tateinheit mit Unfallflucht, §§ 315c, 142 StGB) und erneut flüchtet, ohne einen weiteren Unfall anzurichten, bis er von der Polizei angehalten wird (Trunkenheit im Straßenverkehr in Tateinheit mit Unfallflucht, §§ 316, 142 StGB). Materiell sind das drei Straftaten und prozessual eine Tat, die in einem engen zeitlich-räumlichen Zusammenhang steht.
 

 
Das Verfassungsrecht verlangt, dass der gesamte Handlungsablauf nur zu einer Bestrafung führen darf. Benennt das Urteil nur zwei der drei materiell strafbaren Handlungen, dann darf wegen der dritten Handlung keine neue Bestrafung erfolgen. Dem Täter soll zugute kommen, dass er nicht wiederholt wegen derselben Sache vor dem Richter erscheinen muss. Dann hat er eben Glück gehabt.

Was ist aber, wenn der betrunkene Autofahrer noch während der Polizeikontrolle anfängt zu randalieren (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, § 113 StGB), die Polizisten beleidigt ( § 183 StGB) oder sogar schlägt ( § 223 StGB)? Ist das noch dieselbe prozessuale Tat? Oder handelt es sich um verschiedene Taten, die zwar einen räumlich-zeitlichen Zusammenhang haben, aber wegen des unterschiedlichen Unrechtsgehalts verschiedene Taten im prozessualen Sinne sind?

Insoweit wird von verschiedenen Rechtsgütern gesprochen. Die Beleidigung richtet sich gegen die persönliche Ehre und die schlichte Trunkenheitsfahrt gefährdet die Öffentlichkeit. Bei der Frage, ob es sich um eine einheitliche prozessuale Tat handelt, muss man aber betrachten, wie der räumliche und zeitliche Zusammenhang zwischen den Handlungen ist. Um eine prozessuale Tat handelt es sich dann, wenn alle strafbaren Handlungen ohne erkennbare Unterbrechungen ineinander übergehen.
 

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Vor allem würde die getrennte Würdigung und Aburteilung der dem Beschwerdeführer jetzt zur Last gelegten Tat - nicht zuletzt im Hinblick auf deren die Beteiligung an der kriminellen Vereinigung erheblich übersteigendes strafrechtliches Gewicht - nicht als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorganges empfunden werden. Dass der Anschlag auf das US-Hauptquartier in Verfolgung der Ziele der kriminellen Vereinigung "Rote Armee Fraktion" verübt wurde, ist in diesem Zusammenhang ohne Belang. (1) <RN 8>
 

 
Das BVerfG löst das Problem damit, dass keine "unnatürliche Aufspaltung" entstehen darf. Die Beleidigung und der Widerstand bei der Kontrolle des betrunkenen Autofahrers muss danach als Teil seiner Trunkenheitsdelikte gesehen werden, so dass sie nur gemeinsam als eine prozessuale Tat verfolgt werden können.

Anders sieht es hingegen aus, wenn der betrunkene Autofahrer nach einer gewissen Ausnüchterung im Polizeigewahrsam dem Haftrichter vorgeführt wird und dabei gewalttätig und beleidigend wird. Die zwischenzeitlich vergangene Zeit bewirkt einen Schnitt (Zäsur). Die Alkoholvergiftung des Betroffenen mag noch immer enthemmend wirken, aber er hat genug Zeit gehabt, auch gedanklich tief durchzuatmen und sich zu fassen. Es handelt sich also um zwei verschiedene prozessuale Taten.

Auch das materielle Strafrecht kennt zeitlich gestreckte Handlungen und Dauerdelikte. Dabei kann es sich um die ständige Ausbeutung eines Menschen handeln ( §§ 232, 233 StGB), um den strafbaren Besitz einer Waffe ( § 52 WaffG) oder das mehrjährige Verschweigen steuerpflichtiger Einkünfte ( § 370 AO).

Zweifellos bildet jede materielle Straftat für sich eine geschlossene prozessuale Tat. Kann aber eine mehrjährige Steuerhinterziehung alle Betrügereien und Vergewaltigungen zu einer prozessualen Tat verklammern, die der Täter in der Zwischenzeit begeht?

Das BVerfG meint "nein" und betrachtet damit einen Fall, der viel engere Zusammenhänge aufweist: Wird bei einem Täter, der bereits wegen eines Dauerdelikts verurteilt wurde (Bildung einer kriminellen Vereinigung, § 129 StGB), erst viel später bekannt, dass er auch an einem Mordanschlag der Vereinigung beteiligt war, bleibt diese Handlung selbständig strafbar, auch wenn sie der Täter als Mitglied der kriminellen Vereinigung beging (siehe links).
 


Das Problem der gegenseitigen Verklammerung bei Dauerdelikten zieht sich bis tief in das materielle Strafrecht hinein, weil sie verschiedene Handlungen zu einer materiellen Tat zusammenziehen können (Handlungseinheit, Bewertungseinheit).

Schlägt und vergewaltigt der Täter im Zusammenhang mit einer Entführung sein Opfer, weil die Entführung ihm die Möglichkeit dazu gibt, dann handelt es sich dabei um dieselbe prozessuale und materielle Tat.

Prellt der Entführer während der Entführung in einem Restaurant die Zeche (während das Opfer in seiner Zelle sitzt), ist dazu ein gesonderter Willensentschluss des Täters nötigt. Die Zechprellerei und die Entführung haben nichts miteinander zu tun. Es handelt sich auch prozessual um zwei verschiedene Taten.

Was ist aber, wenn Dauerdelikte gleichzeitig begangen werden? Der Täter hinterzieht gleichzeitig Steuern, besitzt Kokain zum nächstbesten Konsum und hat eine verbotene Waffe? Alles zur selben Zeit, alles kommt erst nach und nach heraus und ist der Gegenstand verschiedener Anklagen. Tritt hier Strafklageverbrauch ein?

Der BGH bemüht dazu ein verständliches Wortbild (2):
Eine minderschwere Dauerstraftat hat nicht die Kraft, mehrere schwerere Einzeltaten, mit denen sie ihrerseits jeweils tateinheitlich zusammentrifft, zu einer materiellrechtlichen Tat im Sinne des § 52 Abs. 1 StGB zusammenzufassen.

Das Verfassungsrecht schützt den Täter völlig zu Recht davor, wegen einer Unrechtsentscheidung mehrfach bestraft zu werden. Das war zum Beispiel der Fall beim überzeugten, aber abgelehnten Kriegsdienstverweigerer, der mehrfach seine Einziehung verweigerte, weil er sich einmal dazu entschlossen hatte. Das war abgrenzbar und auf eine - moralisch sogar nachvollziehbare - Konsequenz beschränkt.

Es will hingegen nicht den gesellschaftlichen Totalverweigerer schützen, der sich einmal entschlossen hat, beliebige Straftaten zu begehen. Er bleibt wegen aller Straftaten strafbar, weil er sich immer wieder neu zum strafbaren Handeln entscheidet und jedes Mal einen neuen Tatentschluss bildet. Seine Entscheidung ist antagonistisch: Er entscheidet sich gegen die Normen seiner Umwelt und gleichzeitig dazu, in ihr zu verbleiben. Das hat nichts mit persönlicher oder Meinungsfreiheit zu tun, sondern ist zynisch und sozialfeindlich. Darin schützt ihn die Verfassung nicht.
 

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(1) BVerfG, Beschluss vom 07.09.1977 - 2 BvR 674/77

(2) BGH, Beschluss vom 08.07.2007 - 3 StR 320/07
 

 

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© Dieter Kochheim, 11.03.2018