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September 2010
23.09.2010 10-09-34 Rechtspolitik
     
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Die Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger hat dem Deutschlandfunk am 10.09.2010 ein Interview zu dem Thema Vorratsdatenspeicherung gegeben (1). Spontane Äußerungen in einem solchen Interview sollte man nicht auf die Goldwaage legen, weil sie die Kernaussagen treffen müssen und die Feinabwägung auf der Strecke bleiben muss. Gewisse Plattheiten lassen sich dabei nicht vermeiden.

Es geht der erfahrenen Politikerin um Strafverfolgung und besonders um Rechtspolitik. Ihre Themen sind neben den Vorratsdaten auch die Websperren. Beide Themen sind Dauerbrenner und man müsste meinen, dass die Verantwortlichen das Für und Wider durchdrungen und abgewogen haben.
 

 
Dem widersprechen die hier wiedergegebenen Zitate, die von der Webseite des BMJ stammen und dadurch einen amtlichen Gütesiegel haben. Wer spielt der Ministerin so böse mit, dass diese Äußerungen auch noch gefreezt werden mussten?

Man müsste meinen, die oberste Rechtsverantwortliche wolle einen Überwachungsstaat errichten, in dem alle Straftaten online beobachtet werden.

In einem solchen Staat würde ich nicht leben wollen!
 

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Natürlich prüfen wir die gesamte Dimension des Urteils (2) und die Auswirkungen, aber wir müssen auch sehen, die in dieser Dimension immer behaupteten Schutzlücken bestehen nicht.
 
 
Straftaten mit Hilfe von Endgeräten, die erst im Nachhinein erkannt werden, sind nicht aufklärbar, weil die Verkehrsdaten nicht zur Verfügung stehen (3).
 
  Auch die USA kennen diese Vorratsdatenspeicherung nicht.
 
Die USA kennen auch keinen restriktiven Datenschutz. Einige Unternehmen bewahren die Verkehrsdaten jahrelang auf.
 
  Nur eingebettet in auch die europäische Entwicklung werden wir hier verantwortungsbewusst vorgehen und natürlich auch alle Alternativen im Blick haben zu dem, was bisher unter Vorratsdatenspeicherung verstanden wurde und ja in Deutschland verfassungswidrig ist, unter anderem auch das, was in Amerika gilt, nämlich ein sogenanntes Quick-Freeze-Verfahren.
 
Das Quick-Freeze-Verfahren ist zur Aufklärung von Straftaten ungeeignet. Es setzt eine permanente Überwachung voraus und ermöglicht quasi das Mitschneiden der Kommunikation bei der Beobachtung krimineller Handlungen.
Der von Orwell beschriebene Überwachungsstaat und der Polizeistaat brauchen keine Vorratsdatenspeicherung. Sie erkennen Straftaten bei ihrer Begehung und nicht erst anhand ihrer späteren Folgen, also zum Beispiel in der Abrechnung der Carrier.
 
 

Und es gibt auch nicht die so behaupteten Schutzlücken, denn nach wie vor, auch heute, kann auf gewisse Daten zu Abrechnungszwecken, die sowieso gegeben sind, zugegriffen werden, auch nach jetzt noch geltendem Recht nach diesem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung. Und von daher ist Deutschland hier nicht schutzlos.
 

Wenn die Strafverfolgungsbehörden sehr schnell handeln, können sie tatsächlich binnen Tage oder weniger Wochen auf die Bestands- und Abrechnungsdaten gemäß § 96 TKG zugreifen (4). Sie legen sich aber nicht, wie andere (5), auf die Lauer. Schnelles Handeln ist immer mit Mehraufwand verbunden, weil Arbeitsabläufe, wie zum Beispiel der Postweg, mit besonderem Personaleinsatz übergangen werden müssen. Diesen ineffektiven personellen Mehrbedarf kann niemand ernsthaft als Regelfall wollen.
 
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Aber natürlich gibt es ja unterschiedliche Formen auch von kriminellem Verhalten im Netz. Und dass das im Netz in der Form nicht immer bekämpft werden kann, wie wir es vorher hatten, aber wir auch nicht intensivere Maßstäbe anlegen als für Bereiche außerhalb des Netzes, muss klar sein.
 
 
Zeugenaussagen, Kontobewegungen, Buchführungsdaten und andere Beweismittel können ohne besonderen Zeitdruck erhoben werden. Darin unterscheiden sie sich von der Telekommunikation und den Telemedien, wenn diese kriminell genutzt werden.
 
  Zudem ist es heute ja möglich, gerade, wenn man während aktueller Ermittlungen auf eine Seite kommt, wo man solche Videos sieht, und das in Echtzeit, innerhalb sofortiger Reaktion macht.
 
Das ist aber kein Ersatz für die nachträgliche Aufklärung von Straftaten, auf die die Öffentlichkeit einen verfassungsrechtlichen Anspruch hat (6).
 
  Und genau das wollen wir ja: Intensivieren. Und da hat das BKA doch unsere volle Unterstützung, dass sie gerade in diesem Bereich des Löschens auch am Wochenende, auch mit dem vielen Personal und den guten Fachkräften, die sie haben und dazu brauchen, effektiv agieren kann. Der BKA-Präsident, Herr Ziercke, hat ja gesagt, dass 30 Mitarbeiterinnen für diesen Bereich sexueller Missbrauch tätig seien. Ich denke, dass wir gemeinsam doch ein Interesse haben, mit möglichst viel und auch noch mehr Personal vor allen Dingen auch an Wochenenden und 1:1 in Echtzeit zu reagieren.
 
Die PKS für 2009 weist 11.319 Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern aus (7), das ist schlimm genug. Auf die Internetkriminalität entfallen 206.909 der insgesamt 6.054.330 erfassten Straftaten. Für 99,8 % der Kriminalität treffen die Aussagen der Ministerin nicht zu.
 
  Und außerdem müssen wir bedenken: Es gibt natürlich immer mehr Flatrates und da nützt auch eine Vorratsdatenspeicherung nichts.
 
Auch die Verkehrsdaten von Flatrates können gespeichert werden, wenn es dafür eine verfassungskonforme Ermächtigung gibt (8).
 
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(1) Die Umsetzung des Urteils zur Datenspeicherung, Interview von Jasper Barenberg mit Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Deutschlandfunk, BMJ 10.09.2010

(2) Umgang mit Verkehrsdaten, 07.03.2010;
BVerfG, Urteil vom 02.03.2010 - 1 BvR 256, 263, 586/08.

(3) Datenschatten in der Überwachungsgesellschaft, 27.06.2010

(4) Auskunft der Bundesregierung über Verkehrsdaten, 15.05.2010

(5) Kampf ums Internet. Trittbrettfahrer, 08.08.2010

 
(6) BVerfGE 33, 367; BVerfGE 47, 239; BVerfGE 80, 367.

(7) Anstieg der Internetkriminalität, 23.05.2010;
BKA, Polizeiliche Kriminalstatistik 2009, 29.04.2010, S. 36.

(8) Vorratsdatenspeicherung ist unzulässig, 02.03.2010;
BVerfG, Urteil vom 02.03.2010 - 1 BvR 256, 263, 586/08, Rn. 206.
 

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© Dieter Kochheim, 11.03.2018