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März 2011
30.03.2011 Anklageschrift
     
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Nach forensischer Erfahrung besteht vor allem in Verfahren, in denen massenweise und gleichförmig begangene Delikte angeklagt sind, das praktische Bedürfnis, die Hauptverhandlung von der zeitaufwändigen Verlesung von Details der einzelnen Taten zu entlasten (so auch BGH, Beschluss vom 17. November 2009 - 3 ARs 16/09 < in dieser Sache >, Rn. 5 ...). Dies hängt im vorrangig - aber nicht ausschließlich - betroffenen Bereich der Wirtschaftkriminalität mit der zunehmenden Verfolgungsdichte und mit neuen Kriminalitätsformen zusammen. Auch wenn der Staatsanwalt, der stets gehalten ist, die Anklageschrift klar, übersichtlich und verständlich abzufassen (vgl. Nr. 110 Abs. 1 RiStBV), die Aufnahme von Einzelheiten in den zu verlesenden Anklagesatz auf das Nötigste zu beschränken hat, hat die genannte Entwicklung dazu geführt, dass in einer zunehmenden Zahl von Einzelfällen zur Konkretisierung der Geschädigten, des Tatortes, der Tatobjekte oder des jeweils konkreten Einzelschadens umfangreiche Details in den Anklagesatz aufzunehmen sind. Die nach dem bisherigen Verständnis von § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO auch in solchen Fällen stets erforderliche Verlesung der Darstellung sämtlicher angeklagter Einzelfälle oder Teilakte kann dann viele Stunden oder sogar mehrere Tage lang dauern. Hierdurch werden die Ressourcen der Justiz sowie aller anderen Verfahrensbeteiligten erheblich belastet, ohne dass dem ein erkennbarer Informationsgewinn gegenüber steht. (2) <Rn 16>
 

11-03-37 
Ich habe selber 'mal tagelang im Wechsel mit zwei Kollegen eine Anklageschrift wegen jahrelangem serienmäßigen Betrug im Zusammenhang mit Kapitalanlagen verlesen. Man kann nur hoffen, dass die anderen Verfahrensbeteiligten (8 Angeklagte, 17 Verteidiger und die notwendigen Gerichtspersonen) gute Lektüren dabei hatten. Die Masse an Fakten, möglicherweise noch in ermüdender Tonlage vorgetragen, mal zu schnell, mal zu langsam gesprochen, kann sich niemand merken. Das ist nur noch eine Konditionsprobe für die Staatsanwälte einerseits und eine Strafe für nichts und wieder nicht andererseits.

Die Anlageschrift hat zwei wichtige Funktionen. Das ist zunächst die Umgrenzungsfunktion, die dazu führt, dass die erhobenen Vorwürfe so genau beschrieben und räumlich/zeitlich eingegrenzt werden, dass keine Verwechslung mit anderen Lebenssachverhalten erfolgen kann und die als strafbar bezeichneten Handlungen und Folgen in ihren Kernen eindeutig bestimmt sind. Hinzu kommt die Informationsfunktion, die über die sachliche Umschreibung der Vorwürfe hinaus auch die Beweismittel und ihre Bewertung verlangt, um es dem Angeschuldigten zu ermöglichen, sein Prozessverhalten auf die Anklage einzustellen.

Die Anklageschrift besteht aus mehreren Teilen. Das ist zunächst der Anklagesatz, in dem der Angeschuldigte mit seinen Personalien individualisiert, der Vorwurf bezeichnet und die anzuwendenden Vorschriften benannt werden ( § 200 Abs. 1 StPO). Dieselbe Vorschrift verlangt auch, dass die Beweismittel angegeben werden. Hinzu kommt das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen ( § 200 Abs. 2 StPO), in dem die Einzelheiten über die Person des Angeschuldigten sowie seinen Vorstrafen und schließlich der Inhalt der Beweismittel und ihre Bewertung beschrieben werden.

Alles zusammen bildet eine Einheit auf der Grundlage der Akten und Beweismittel. Auf Rechtsfragen geht die Anklageschrift grundsätzlich nicht ein, außer es besteht dazu ein besonderer Anlass. Das können spezialrechtliche Fragen sein, streitige oder ungewöhnliche Auslegungen oder Auseinandersetzungen mit der Verwertbarkeit, um Beispiele zu nennen.
 

 
Immer wieder ist streitig gewesen, ob Tabellenwerke oder andere Schriftstücke zur Vermeidung von Ausuferungen und Wiederholungen als Anlagen zur Anklageschrift beigefügt werden dürfen und deshalb ihr Bestandteil sind. Anerkannt ist bereits länger, dass der Anklagesatz auf die Einzelheiten im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen verweisen darf (1).

Dieser Streit bekommt aus nahe liegenden Gründen immer wieder neue Nahrung: Muss zwischen Anklagesatz und wesentlichem Ergebnis ein ausuferndes Tabellenwerk erstellt werden, in dem nicht nur jeder Zeuge und Sachverständige, die geladen werden müssen, sondern auch jedes Schriftstück, Bild und sonstiges Beweismittel aufgeführt werden? Die Verweiserleichterung macht es klar: Es reicht die Erörterung im wesentlichen Ergebnis. Das erschwert dem Gericht die Vorbereitung der Hauptverhandlung, weil es nicht einfach nur "die Zeugen aus der Anklageschrift" laden kann, sondern sich eigene Gedanken über die Struktur und den Ablauf der Hauptverhandlung machen muss. Genau das ist auch seine Aufgabe.

Die Anklageschrift ist keine Wiedergabe der Akten, sondern eine Zusammenfassung. Das Problem dabei zeigt sich besonders dann, wenn es um die Wiedergabe von Zeugenaussagen geht. Ich vertrete die Ansicht, dass alle Beweismittel und damit auch die Zeugenaussagen auf ihren wesentlichen Kern zusammen zu fassen sind. Wenn ein Polizist über den Tatort bei seinem ersten Eintreffen berichten kann, dann genügt es, nur das auszuführen und die wesentlichen Feststellungen zu benennen. Nur dann, wenn es auf die präzise Wiedergabe von Worten oder Zusammenhängen ankommt, müssen sie auch im Wortlaut zitiert werden.

Dafür sprechen zwei Gründe. Ausufernde Schilderungen versperren den Blick auf das Wesentliche und dem Angeschuldigten soll unzweideutig klar gemacht werden, warum ich ihm Böses vorwerfe. Dazu muss ich auch schmückenden und weitgehend aussagemangelnden Unflat ausscheiden und mit eigenen Worten umreißen.
 

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Mit erfreulicher Klarheit hat der BGH jetzt ausgeführt, dass zumindest der Anklagesatz bei gleichartigen Serientaten schlank gehalten werden darf (2). Tragend sind die Gründe, die ich eingangs genannt habe: Der Angeklagte, die Schöffen und die Öffentlichkeit haben nichts davon, wenn sie einfach nur einer Wortflut ausgesetzt werden. Um wirklich zu verstehen, was dem Angeklagten vorgeworfen wird, benötigen sie ein Management-Fassung, in der die Knackpunkte, die sich wiederholende Art der Tatbegehung und das Volumen des Schadens und der Geschädigten zusammengefasst werden.

Die Informations- und Umgrenzungsfunktionen werden davon nicht betroffen. Sie müssen im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen weiterhin ausgeführt werden und mit der Zustellung der schriftlichen Fassung der Anklageschrift werden der Angeschuldigte und sein Verteidiger schon vorher über die sachliche Eingrenzung der Vorwürfe und den Gehalt der Beweismittel informiert.

Auch den Schöffen, denen keine Akteneinsicht zusteht, ist damit gedient: Sie sollen durch die Verlesung mit dem Verhandlungsgegenstand und den Grenzen, innerhalb derer sich die Urteilsfindung zu bewegen hat, so bekannt gemacht werden, dass sie dieses Amt ausüben können. Auch deshalb ist die Anklage verständlich und erfassbar zu gestalten <Rn 28>. Sie werden durch eine konzentrierte und gruppierte Darstellung der wesentlichen Sachverhalte weitaus besser informiert als durch die langatmige Verlesung eines etwa nur chronologisch geordneten Sachverhalts mit einer unüberschaubaren und daher nicht einprägbaren Menge von Einzeldetails. Nach aller forensischer Erfahrung ist eine solche Verlesung nicht nur für die gedankliche Erfassung des Anklagevorwurfs nutzlos; sie führt darüber hinaus sogar zu einer Ermüdung, die die Aufmerksamkeit für das einer solchen Verlesung nachfolgende Verfahrensgeschehen beeinträchtigen kann <Rn 28>.

Ihnen darf der Anklagesatz auch in schriftlicher Form ausgehändigt werden <Rn 30>.
 

 
Die neue Freiheit ist für die staatsanwaltschaftliche Praxis durchaus zwiespältig. Sie kann nicht für Anklagen zum Strafrichter oder für Strafbefehle gelten, bei denen auf das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen verzichtet werden darf. Dorthin dürfen die Einzelheiten verlagert werden. Sie müssen aber nach wie vor ausgeführt und dem Angeklagten mitgeteilt werden.

Im Endeffekt verlangen schlanke Anklagesätze vom Staatsanwalt mehr als zuvor. Er muss im wesentlichen Ergebnis alle Einzelheiten der Vorwürfe ausführen und sich dann darauf konzentrieren, wie er sie sinnvoll und anschaulich zusammen fasst.

Das beklage ich nicht. Gerade die Zusatzleistung, die Arbeitsergebnisse aus den Ermittlungen auf ihren wesentlichen Kern zu reduzieren, ist eine Qualitätskontrolle. Damit bekommt das wesentliches Ergebnis ein neues Gewicht. Es darf nicht einfach nur mit wichtig erscheinenden Einzelheiten angefüllt, sondern muss strukturiert und geplant werden.

Das wichtigste Strukturelement ist die prozessuale Tat. Bei schlanken Anklagesätzen wird die staatsanwaltschaftliche Überzeugungsarbeit in das wesentliche Ergebnis verlegt. Es ist kein Aktenauszug mehr, sondern verlangt nach zusammen fassenden Erklärungen und ihre Unterfütterung mit Fakten.

Bei der juristischen Ausbildung werden diese Konsequenzen nur langsam ankommen, in der juristischen Praxis wahrscheinlich noch später. Das macht nichts. Wir werden das schon lernen!
 

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 Wenn zwei Polizisten zu einem Gespräch über ein Ermittlungsverfahren erscheinen, ist das normal. Kommen sie zu Dritt, ist Vorsicht angesagt. Dann könnte irgendetwas vorabgesprochen sein, was man wieder hinter- und rausfragen muss. Kommt ein Polizist alleine, dann ist auch Vorsicht angesagt ...

 Auch polizeiliche Berichte bergen Klippen. Einer der faulsten, den ich erlebt habe, bestand aus zwei Fakten: An zwei aufeinander folgenden Tagen wurden in weit auseinander liegenden Stadtteilen zwei Autos desselben Herstellers, nicht aber desselben Modells gestohlen. Nach mehreren Seiten des Berichts entstand aus vielen kriminalistischen Erkenntnissen, Annahmen und Vermutungen das Abbild einer baltischen Bande, die ihr Geschäftsfeld von einer hanseatischen Großstadt in unsere Stadt verlegt hat. Bullshit. Damit sollten dann Telefonüberwachungen und andere verdeckte Ermittlungen begründet werden.

Überraschung ernte ich dann häufig, wenn ich sage, dass zunächst ich überzeugt werden muss, bevor ich einen Antrag zum Ermittlungsrichter sende. Ach?

Besondere Vorsicht ist geboten, wenn in polizeilichen Berichten vorschnell von einem dringenden Tatverdacht, Banden, internationalen Hinterleuten oder vermuteten hierörtlichen Repräsentanten die Rede ist. Hier gilt die Frage nach den Fakten, die der kriminalistischen Bewertung unterzogen werden. Viel zu häufig bleibt es bei Kästners Antwort auf die Frage nach dem Positiven: Ja, wo sind sie denn?

Nichts gegen kriminalistischen Erfahrungen. Ich habe auch eine ganze Menge davon. Sie müssen aber auf Fakten angewendet werden und dürfen kein Eigenleben entfalten.
  

 
 Es gibt Bauchgefühle und ich habe auch schon vielen erfahrenen Strafverteidigern offen gesagt, dass ich allein aus Erfahrung eine bestimmte Vermutung habe und deshalb bestimmte Auskünfte oder Beweismittel hätte. Gelegentlich habe ich offene Zustimmung bekommen: Bauchgefühl ist ganz häufig das beste, das man haben kann. So habe ich viele Informationen erhalten, die ich mir auch anders, aber aufwändiger hätte beschaffen können. Der Verteidiger hat die betreffende Information zuerst gehabt und sich darauf einstellen können. Das geht nicht in jedem Fall, nicht bei jedem und auch nur dann, wenn man einen gefestigten Ruf hat.

 In Bezug auf das Skimming-Strafrecht musste ich mich in den letzten Monaten überhaupt nicht mehr mit (erfahrenen, etablierten und professionellen) Verteidigern über die Grundlagen streiten. Sie kennen das Arbeitspapier Skimming #2.2 und haben auch die Quellen nachrecherchiert - vereinzelt nicht durch Klicks auf die Links im PDF-Dokument, sondern mit kostenträchtigen Druckabfragen - und überprüft.

 Für jeden juristischen Beruf gilt, dass es ein professionelles Berufsbild gibt und jede Einzelperson von den anderen daran gemessen wird.

Schlechte Richter erkennt man daran, dass sie ihre Aktenunkenntnis offenbaren, schlechte Staatsanwälte daran, dass sie ihre Ziele im Unklaren lassen, und schlechte Verteidiger daran, dass sie mit formalisierten Sprechblasen unkonturierte Möglichkeiten in Worte fassen. Es gibt noch mehr Kriterien, zum Beispiel das, dass ich keiner Verständigung zugeneigt bin mit einem Verteidiger, mit dem ich die Erfahrung gemacht habe, dass er dennoch ein Rechtsmittel einlegt. Das ist nicht verboten, aber mit Verlaub ...
  

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(1) klare Anklage, 02.02.2010;
BGH, Urteil vom 17.08.2000 - 4 StR 245/00

(2) BGH, Beschluss vom 12.01.2011 - GSSt 1/10

 

 

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© Dieter Kochheim, 11.03.2018