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August 2010
29.08.2010 10-08-39 Sicherungsverwahrung
     
zurück zum Verweis zur nächsten Überschrift höchster Streit um die Sicherungsverwahrung
  Der 1957 geborene Beschwerdeführer befand sich seit seinem 15. Lebensjahr nur wenige Wochen in Freiheit. (1)
 
1998 Höchstdauer (10 Jahre) wegen der ersten SV entfällt
2004 Einführung der nachträglichen SV
  Einführung der SV wegen Rauschtat
  Einführung der SV neben Unterbringung in der Psychiatrie
  Rückwirkungsanordnung
2007 Einführung der SV auf rechtliche Hinderungsfälle

Das Bundesverfassungsgericht, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und jetzt auch der Bundesgerichtshof streiten um die Grenzen der Sicherungsverwahrung. Der BGH hat sich mit einem jungen Beschluss an die Seite des EGMR gestellt und dürfte damit seine Entscheidungsbefugnisse überschritten haben.

Kann ja 'mal passieren.

Neben (Geld- und Freiheits-) Strafe kennt das StGB auch freiheitsentziehende Maßregeln ( §§ 63 ff. StGB). Das sind die gerichtlich angeordneten Unterbringungen
in einem psychiatrischen Krankenhaus ( § 63 StGB),
in einer Entziehungsanstalt ( § 64 StGB) und
in der Sicherungsverwahrung ( § 66 StGB).

Die Sicherungsverwahrung wird gegen besonders gefährliche Hangtäter verhängt, um die Öffentlichkeit vor ihnen zu schützen ( § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB). Während die anderen beiden Unterbringungen auch das Ziel der Heilung haben ("Besserung") beschränkt sich die Sicherungsverwahrung auf das präventive Wegsperren ("Sicherung"). Sie ist ein besonders scharfes Schwert und letztes Mittel gegen besonders gefährliche Formen der Kriminalität.
 

Die Vorschriften über die Sicherungsverwahrung - SV - sind zwischen 1998 und 2007 mehrfach erweitert worden. Dies betrifft ganz besonders den Wegfall der Höchstdauer bei der ersten Anordnung der SV (1998) und die Einführung der Nachträglichen SV (2004). Im einzelnen:

Die Unterbringung nach § 64 StGB ist auf die Dauer von 2 Jahren beschränkt ( § 67d Abs. 1 S. 1 StGB), die in der Psychiatrie und in der Sicherungsverwahrung kennen dagegen keine Obergrenzen mehr. Bis 1998 war die Dauer der erstmals verhängten Sicherungsverwahrung auf 10 Jahre begrenzt. Seit der Einführung des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.01.1998 gilt diese Beschränkung mit Genehmigung des BVerfG nicht mehr (2).

Darüber hinaus wurde mit dem Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23.07.2004 der § 66b StGB geschaffen, der die Sicherungsverwahrung gegen solche Täter möglich macht, deren Gefährlichkeit erst während der Verbüßung von Freiheitsentziehung deutlich wird. Auch dieses Gesetz hat das BVerfG bestätigt (3).
 

zurück zum Verweis Erweiterung der Anwendungsfälle Rückwirkungsverbot und MRK
 
§ 66b Abs. 1 Satz 2 StGB ist grundsätzlich auf Taten anwendbar, die vor seinem Inkrafttreten – mithin vor dem 18. April 2007 – begangen worden sind, und ausschließlich auf Straftaten, bei deren Aburteilung die Verhängung von Sicherungsverwahrung aus Rechtsgründen ausgeschlossen war. Die Sicherungsverwahrung rechnet zu den Maßregeln der Besserung und Sicherung ( § 61 Nr. 3 StGB), für die nach § 2 Abs. 6 StGB das zum Zeitpunkt der Entscheidung geltende Recht maßgebend ist. Etwas anderes er-gibt sich auch nicht aus § 2 Abs. 6 StGB in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 MRK. Letzterer kann im Geltungsbereich von § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB nicht als abweichende gesetzliche Bestimmung gemäß § 2 Abs. 6 StGB angesehen werden. (4).
 

 
Mit Art 1a EGStGB wird angeordnet, dass die Aufhebung der Obergrenze für die Dauer der SV ungeachtet der Tatzeit gilt. Auch erst 2004 wurde mit § 66 Abs. 3 StGB die Möglichkeit geschaffen, dass im Falle einer schwerwiegenden Rauschtat ( § 323a StGB) die SV angeordnet werden kann. Seither ermöglicht § 66b Abs. 3 StGB zudem die Anordnung der nachträglichen SV, wenn die Unterbringung des Täters in der Psychiatrie beendet werden muss.

2007 wurde schließlich § 66b Abs. 1 S. 2 StGB dahingehend erweitert, dass die nachträgliche SV auch dann angeordnet werden kann, wenn die Gefährlichkeit des Täters bereits zum Zeitpunkt seiner Verurteilung feststand, aber rechtliche Hinderungsgründe bestanden, ihn auch zur SV zu verurteilen. Das ist zum Beispiel der Fall gewesen, soweit der Beitrittsvertrag die Anordnung der SV ausgeschlossen hat.

Hierzu hat der BGH jüngst Stellung genommen und die Rückwirkung der neuen Vorschrift anerkannt (4). Die abweichende Rechtsprechung des EGMR (siehe unten) führe aber dazu, dass das Ermessen des Tatgerichts eingeschränkt und bei der Ermessensausübung von einem grundsätzlichen Überwiegen des Freiheitsrechtes und des Vertrauensschutzes des Beschwerdeführers auszugehen ist.

Bei den gegenwärtigen Streiten im Zusammenhang mit der SV (5) geht es um die Frage des Rückwirkungsverbotes ( Art. 103 Abs. 2 GG) und des Verbotes der Doppelbestrafung ( Art. 103 Abs. 3 GG). Im Wesentlichen geht es dabei um folgende Fallgruppen:

Zulässigkeit der SV über die Dauer von 10 Jahren hinaus, wenn der Täter zu einem Zeitpunkt handelte, als noch die zehnjährige Höchstdauer bei der Erstanordnung galt.

Zulässigkeit der nachträglichen SV, wenn der Täter vor dem Inkrafttreten der neuen Vorschrift handelte.

Zulässigkeit der nachträglichen SV, wenn die Gefährlichkeit des Täters bereits bei seiner Verurteilung feststand.
 

 
Strafe ist eine Sanktion, die sich nach der Schuld des Täters richtet ( § 46 Abs. 1 S. 1 StGB). Deshalb betrachtet der Gesetzgeber die freiheitsentziehenden Maßregeln nicht als Strafe, sondern als Maßnahme zum Schutz der Öffentlichkeit. Die Sicherungsverwahrung dient nicht der Vergeltung zurückliegender, sondern der Verhinderung zukünftiger Straftaten. Nicht zuletzt deshalb sind die Voraussetzungen zu ihrer Anordnung besonders hoch gesetzt und bestehen strenge Regeln zur Prüfung ihrer Fortdauer und der Verhältnismäßigkeit.

Das sieht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte - EGMR - anders. Aus Art. 5 Abs. 1 MRK folgert er, dass die deutsche SV wie eine Strafe zu behandeln ist und deshalb auch ihre Regeln dem Rückwirkungsverbot unterliegen (6).

Entschieden hat der EGMR über die Abschaffung der Obergrenze bei der Dauer der ersten angeordneten SV (7).

Über den Einfluss der Entscheidungen des EGMR auf die deutsche Rechtspraxis wird nicht vom Grundsatz her, sondern wegen der Details gestritten (8): Das Europarecht hat den Rang eines einfachen Bundesrechts und steht damit über Landesrecht und Rechtsverordnungen aber unterhalb der deutschen Verfassung.

Mit den beiden hier angeführten Entscheidungen hat sich der BGH mit dem EGMR auseinander gesetzt und zwei unterschiedliche Lösungen gefunden.

 

zurück zum Verweis BGH Auslegungszweifel

 
Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung hat keinen Bestand. Zwar hat das Landgericht die Voraussetzungen des § 66b Abs. 3 StGB rechtsfehlerfrei bejaht, jedoch ist diese Bestimmung gemäß § 2 Abs. 6 StGB i.V.m. Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK nicht auf Taten anwendbar, die vor ihrem Inkrafttreten begangen worden sind (9).
 

 
Im Wege der Auslegung bekommt der EGMR in einer anderen Entscheidung des BGH ein so starkes Gewicht, dass er deutsches Gesetzesrecht verdrängt (9). Als das LG Trier 1991 den Angeklagten zur Unterbringung in der Psychiatrie verurteilte ( § 63 StGB) konnte nicht auch die SV angeordnet werden, weil seinerzeit die SV eine schuldhafte Straftat voraussetzte. Erst § 66b Abs. 3 StGB lässt seit 2004 die Verurteilung zu SV neben der Unterbringung in der Psychiatrie zu.

In Bezug auf "Altfälle" nutzt der BGH das Urteil des EGMR als Auslegungshilfe für den § 2 Abs. 6 StGB: Über Maßregeln der Besserung und Sicherung ist, wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt. Das würde dem Wortlaut nach heißen müssen, dass auf den Zeitpunkt der Entscheidung über die nachträgliche SV abzustellen ist. Anders der BGH: Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK schreibt für jede Form von Strafe die Anwendung des Tatzeitrechtes vor. Wenn die SV europarechtlich als Strafe zu behandeln ist, dann gilt für sie das Tatzeitgebot der MRK.

Dabei setzt sich der BGH auch mit dem BVerfG auseinander, das Rückwirkungsregeln zur SV als verfassungsrechtlich wirksam angesehen hat. Das mag ja sein, sagt der BGH, aber dem einfachen Bundesrecht ist es unbenommen, stärkere und weitere Freiheitsrechte oder Eingriffsschranken zu setzen als das Verfassungsrecht. Bei verfassungsrechtlicher Wirksamkeit der Rückwirkungsregeln zur SV scheitern sie jedoch am konkurrierenden Bundesrecht nach Maßgabe der Auslegung des EGMR.

Anders als Gaede, der den BGH lobt und seine Entscheidung als richtungsweisend ansieht (10), habe ich große Schwierigkeiten mit der handwerklichen Qualität dieser Entscheidung.
 

 
Es sind zwei Auslegungsgrundsätze, die mich an dem BGH zweifeln lassen: 

Die Grenze der Auslegung bildet der Wortlaut (Larenz).

Das besondere Gesetz bricht das allgemeine.

Zunächst geht es um die Anwendung des richtigen Gesetzes: Art. 7 MRK ist zweifelsfrei das allgemeinere Gesetz gegenüber § 2 Abs. 6 StGB. Auf bundesgesetzlicher Ebene konkurrieren sie gleichrangig miteinander. Das führt dazu, dass das allgemeinere Gesetz verdrängt wird, also die Menschenrechtskonvention. Daran kann auch seine Auslegung durch den EGMR im Einzelfall nichts ändern.

Wenn es darum geht, § 2 Abs. 6 StGB auszulegen, dann bildet dessen Wortlaut die absolute Grenze für seine Auslegung. Der sagt aber ausdrücklich, dass das Recht zur Entscheidungszeit anzuwenden ist und nicht das zur Tatzeit. Auch im Wege der Auslegung kann die Rechtsprechung des EGMR nicht über die Wortlautgrenze hinausschießen.

§ 2 Abs. 6 StGB kann nur dann nach Maßgabe der MRK unanwendbar sein, wenn sie das höherrangige Recht wäre. Das wäre sie aber nur, wenn sie Grundsätze für allgemeine Menschenrechte formulieren würde, die über die im Grundgesetz beschriebenen hinausgingen. Dagegen steht aber Art. 103 GG, zu dessen Auslegung der BGH nur berufen ist, solange er nicht mit der Rechtsprechung des BVerfG konkurriert. Wenn sich das BVerfG bereits entschieden hat, bleibt dem BGH nur, das höherrangige Rechts anzuwenden.

Ich fürchte, die Entscheidung des BGH vom Mai 2010 weist in die falsche Richtung. Das ist deshalb besonders tragisch, weil die Verpflichtung der Oberlandesgerichte, bei beabsichtigten abweichenden Entscheidungen zur SV dem BGH vorzulegen ( 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG) erst jüngst in Kraft getreten ist (11).
 

zurück zum Verweis Anmerkungen
 


(1) BVerfG, Urteil vom 05.02.2004 - 2 BvR 2029/01, Rn. 44.

(2) (1)

(3) BVerfG, Beschluss vom 05.08.2009 - 2 BvR 2098/08, 2633/08

(4) BGH, Beschluss vom 21.07.2010 – 5 StR 60/10, Rn. 9.

(5) Offenbar 15 Straftäter aus Sicherungsverwahrung entlassen, AFP 05.08.2010

(6) EGMR, Urteil vom 17.12.2009 - Nr. 19359/04, Rn. 95 ff.

(7) (6), Rn. 101 ff. [Auseinandersetzung mit (1)].
 

 
(8) oberster Zickenkrieg, 04.07.2010

(9) BGH, Beschluss vom 12.05.2010 - 4 StR 577/09, Rn. 7.

(10) Karsten Gaede, Rückwirkende Sicherungsverwahrung – Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EMRK als andere gesetzliche Bestimmung im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB, hrr-strafrecht.de 7/2010

(11) BT-Drs. 17/2350
 

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© Dieter Kochheim, 11.03.2018